Brauchen wir in Hamburg ein Paritätsgesetz?
Na klar. Ein Paritätsgesetz befördert, dass die Geschlechter, insbesondere Männer und Frauen, in Gremien gerechter entsprechend ihres Anteils in der Gesellschaft vertreten sind.
In Hamburg entspricht die Verteilung der Mandate in der Bürgerschaft, unserem Landesparlament, noch nicht dem Verhältnis der Geschlechter in der Gesellschaft, wo der Anteil von Frauen den der Männer leicht übersteigt. In der Hamburgischen Bürgerschaft nehmen demgegenüber Frauen mit 44 von 122 Sitzen nur rund 2/5 der Sitze ein, Männer mit 68 Sitzen rund 3/5. Annähernd gleich sind die Anteile nur in den Fraktionen der Grünen mit 11 Frauen und 12 Männern sowie der Linkspartei mit 6 Männern und 7 Frauen. Sehr schlecht sieht es bei CDU und AfD aus. In der CDU-Fraktion sind von 15 Abgeordneten 12 Männer und 3 Frauen, in der AfD-Fraktion ist nur eine Frau von insgesamt Abgeordneten.
Und dann ist da noch unsere Landesregierung, der Senat. Die Grünen stellen 2 männliche und 2 weibliche Senator*innen und die SPD ebenfalls 2 weibliche Senatorinnen, allerdings gegenüber 5 männlichen Senatoren zuzüglich des männlichen Bürgermeisters. Bei den SPD-Regierungsmitgliedern beträgt der Frauenanteil also 2 von 8 und damit nur 25 %.
Das muss verbessert werden. Familienfreundlichere Gestaltung der Politik und der Arbeit in Parlamenten sowie anderen Gremien ist nötig und gut. Damit es endlich zügig zu einer gerechten Repräsentation der Geschlechter kommt, brauchen wir jedoch zusätzlich Paritätsgesetze.
Grundlagen im Grundgesetz und in unserer Hamburger Landesverfassung
Im Grundgesetz (GG) und unserer Hamburgischen Landesverfassung sind Grundlagen für die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern auch mittels Paritätsgesetzes angelegt.
Art. 3 Abs. 2 GG lautet: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“. Zur Erfüllung dieser Pflicht dürfen faktische Nachteile, die typischerweise Frauen treffen, auch durch begünstigende Regelungen ausgeglichen werden (BVerfG, Urteil vom 28.1.1992, BVerfGE 85, 191, 207).
Unsere Landesverfassung geht noch konkreter in Richtung Förderung der Gleichstellung auch bei der Verteilung öffentlicher Ämter. Nach Vorarbeit einer Enquete-Kommission (dazu David, Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, 2. Aufl., Art. 3 Rn. 44 m.w.N.) ist 1996 Art. 3 Abs. 2 mit den bisherigen Sätzen 1 und 2 „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird nach Maßgabe der Verfassung und der Gesetze ausgeübt“ um Sätze 3 und 4 ergänzt worden. Die Ergänzung lautet: „Sie“ – die Staatsgewalt – „hat auch die Aufgabe, die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern. Insbesondere wirkt sie darauf hin, daß Frauen und Männer in kollegialen öffentlich-rechtlichen Beschluss- und Beratungsorganen gleichberechtigt vertreten sind“. Damit ist in unsere ansonsten auf staatsorganisatorische Regelungen beschränkten Landesverfassung einzig zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern eine materielle Regelung aufgenommen worden. Das unterstreicht die hohe Bedeutung der staatlichen Aufgabe, die seit über 70 Jahren im Grundgesetzt normierte Gleichberechtigung von Frauen und Männern endlich tatsächlich zu realisieren.
Art. 3 Abs. 2 Sätze 3 und 4 der Hamburgischen Verfassung verpflichten den Staat als Adressaten des Förderauftrags dazu, Maßnahmen zur Erreichung des Ziels der Gleichstellung von Frauen und Männern zu ergreifen (David, a.a.O., Rn. 51). Ein subjektives Recht auf Durchführung bestimmter Fördermaßnahmen besteht nicht (David, a.a.O., Rn. 50 m.w.N.). Ergebnisgleichheit in dem Sinne, dass Fördermaßnahmen unmittelbar zu paritätischer Verteilung führen, kann ebenfalls nicht verlangt werden (vgl. David, a.a.O., Rn. 55, m.w.N.). Mit der ergebnisoffenen Regelung sollte vermieden werden, dass die Regelung als starre Quotenvorgabe verstanden wird, was verfassungsrechtlich jedenfalls bedenklich wäre (vgl. David, a.a.O., Rn. 56, 58, m.w.N.). Verpflichtet sind nur die Staatsgewalten, also Parlament, Regierung und Justiz, nicht die politischen Parteien (David, a.a.O., Rn. 60).
Die Staatsgewalten sind nicht nur Adressaten des Förderauftrags bzw. der Hinwirkenspflicht, sie kommen auch als Objekte der Pflichterfüllung in Betracht. Dass ist im Grundsatz unstreitig (vgl. David, a.a.O., Rn. 64). Warum bezüglich der Bürgerschaft vertreten wird, sie komme „nur als Träger der Pflicht in Betracht“, „auch wenn sie ein Beschlussorgan im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 4 ist“ (so David, a.a.O., Rn. 65), erschließt sich nicht. Demgemäß sieht auch der in Hamburg zwischen SPD und Grünen für die von 2020 bis 2025 reichende 22. Wahlperiode geschlossene Koalitionsvertrag ein Paritätsgesetz für Bürgerschaft und Bezirksversammlungen vor.
Die Hinwirkungspflicht obliegt im Übrigen auch dem Ersten Bürgermeister bei der Bildung des Senats. Und die Bürgerschaft hat bei ihrer Bestätigung der Senatsbildung darauf zu achten, dass der Erste Bürgermeister seiner Pflicht genügt hat (David, a.a.O., Rn. 65).
Wie regelt man auf dieser Grundlage Parität in Parlament und Regierung?
Es gibt bereits zahlreiche Beispiele für Paritätsregelungen im In- und Ausland. In der Bundesrepublik Deutschland haben zuerst Brandenburg und dann Thüringen Paritätsgesetze erlassen. In weiteren Bundesländern sind solche Gesetze in Arbeit.
Die schon erlassenen Länder-Paritätsgesetze beziehen sich auf Landes- und Kommunalparlamente und knüpfen am Wahlrecht an.
Im Thüringer Wahlgesetz für den Landtag heißt es in dem die Landeslisten betreffenden § 29 in Absatz 5 „Die Landesliste ist abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen, wobei der erste Platz mit einer Frau oder einem Mann besetzt werden kann. Personen, die im Personenstandsregister als ‚divers‘ registriert sind, können unabhängig von der Reihenfolge der Listenplätze kandidieren. Nach der diversen Person soll eine Frau kandidieren, wenn auf dem Listenplatz vor der diversen Person ein Mann steht; es soll ein Mann kandidieren, wenn auf dem Listenplatz vor der diversen Person eine Frau steht“. Nach § 30 Abs. 1 Sätze 4 und 5 werden Wahlvorschläge, die nicht dem § 29 Abs. 5 entsprechen, zurückgewiesen und Wahlvorschläge, die zum Teil diesen Anforderungen nicht entsprechen, nur bis zu dem Listenplatz zugelassen, mit dessen Besetzung die Vorgaben des § 29 Abs. 5 noch erfüllt sind. Nach § 36 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 gibt der Wähler „seine Landesstimme in der Weise ab, dass er durch ein auf den Stimmzettel gesetztes Kreuz oder auf andere Weise eindeutig kenntlich macht, welche Landesliste er wählt. Für die Wahlkreislisten, auf denen nach § 36 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 mit der Wahlkreisstimme ein konkreter Bewerber (gemeint: oder eine Bewerberin) gewählt wird, enthält das Gesetz eine Paritätsregelung nicht.
Die Regelung im Brandenburgischen Landeswahlgesetz ist ähnlich.
Für Hamburg sieht der Koalitionsvertrag von SPD und Grünen ebenfalls eine am Wahlrecht und an den Wahllisten anknüpfende Regelung vor, die die Bürgerschaft und die Bezirksversammlungen betreffen soll. Auf Seite 146 heißt es dazu: „Die Koalitionspartner setzen sich das Ziel, durch Gesetzesänderungen das Wahlrecht zur Bürgerschaft und zu den Bezirksversammlungen zu ändern, um jeden zweiten Platz der Wahlkreis-, Landes- und Bezirkslisten mit einer Frau zu besetzen. Kandidieren Personen mit dem Geschlechtseintrag divers oder Personen ohne geschlechtliche Zuordnung auf einem Platz, wird die Alternierung für diesen Platz unterbrochen“.
Und was ist mit unserem Senat? Für eine Konkretisierung der sich im Grunde bereits aus Art 3 Abs. 2 Satz 4 der Hamburgischen Verfassung ergebenden Pflicht zu geschlechtergerechterer Verteilung der Senatorenämter in Hamburg wäre nicht an die Wahlgesetze anzuknüpfen, sondern an die Regelung über die Senatsbildung in Art. 33 ff. der Hamburgischen Verfassung. Art. 34 Abs. 1 und 2 lauten wie folgt: „(1) Die Bürgerschaft wählt die Erste Bürgermeisterin oder den Ersten Bürgermeister mit der Mehrheit ihrer gesetzlichen Mitgliederzahl. (2) Die Erste Bürgermeisterin oder der Erste Bürgermeister beruft und entläßt die Stellvertreterin (Zweite Bürgermeisterin) oder den Stellvertreter (Zweiter Bürgermeister) und die übrigen Senatorinnen und Senatoren. Die erste Bürgermeisterin oder der Erste Bürgermeister beantragt die gemeinsame Bestätigung durch die Bürgerschaft; bei der späteren Berufung von Senatorinnen und Senatoren kann sie oder er auch deren gesonderte Bestätigung beantragen“. Hier könnte eine den Art. 3 Abs. 2 Satz 4 wiederholende bzw. klarstellende Regelung eingefügt werden. Obwohl Art. 3 Abs. 2 Satz 4 der Hamburgischen Verfassung, wie aufgezeigt, ohnehin auch für die Senatsbildung gilt, zeigt die Praxis, dass ein Verdeutlichen an dieser konkreten Stelle sinnvoll wäre.
Bedeutung des Urteils des Thüringer Verfassungsgerichtshofs vom 15. Juli 2020, mit dem die thüringische Paritätsregelung für nichtig erklärt worden ist
Was bedeutet für uns in Hamburg das Thüringer Urteil vom 15. Juli 2020? Müssen wir danach das Vorhaben eines Paritätsgesetzes für Hamburg ad acta legen? Keineswegs.
Unmittelbare Wirkung entfaltet das Thüringer Urteil nur für die Thüringische Paritätsregelung. Es besteht aber auch kein Anlass, diesem Urteil eine indirekt blockierende Wirkung für unser Hamburger Paritätsgesetz-Vorhaben zuzumessen, denn zum einen überzeugt das Urteil an sich nicht und zum anderen wird wegen der Unterschiede des Thüringischen und des Hamburger Wahlrechts eine Hamburger Paritätsregelung, die ansonsten unser Wahlrecht im Kern unangetastet lässt, die Verfassungsgrundsätze, in die dadurch eingegriffen wird, in weit geringerem Maße beeinträchtigen als das in Thüringen der Fall war.
Dass das Thüringer Urteil an sich nicht überzeugend ist, haben auch drei der insgesamt neun beteiligten Richter*innen so gesehen und deshalb ihre abweichenden Meinungen in zwei Sondervoten dargelegt.
Verletzung anderer Rechtspositionen durch die Paritätsregelung
Zunächst wird in den Urteilsgründen herausgearbeitet, in welche geschützten Rechtspositionen das Paritätsgesetz eingreift. Folgende Eingriffe werden gesehen:
Mit Bezug auf die Rechte der Parteien
– eine Beschränkung der Freiheit der Parteimitglieder, „auf den jeweiligen Listenplatz, der aufgrund des Paritätsgesetzes für das eine Geschlecht vorgesehen ist, einen Vertreter des anderen Geschlechts zu wählen“,
– eine Beeinträchtigung der „Programmfreiheit der Parteien“, indem das Paritätsgesetz Parteien daran hindert, Inhalte und Aussagen ihres Programms mit einer spezifischen geschlechterbezogenen Besetzung ihrer Listen zu untermauern, und
– eine Beeinträchtigung des Rechts der Parteien auf Chancengleichheit, das bei solchen Parteien beeinträchtigt werde, die einen wesentlich höheren Anteil eines Geschlechts unter ihren Mitgliedern haben;
mit Bezug auf die Wähler
– eine Einschränkung der Freiheit, durch die Wahl einer ausschließlich oder überwiegend männlich oder weiblich dominierten Liste mit zu bewirken, dass im Landtag mehr Frauen als Männer oder mehr Männer als Frauen vertreten sind, und
– eine Beeinträchtigung der Gleichheit der Wahl, indem nicht dem Paritätsgesetz entsprechende Listen zurückzuweisen bzw. die gesetzeswidrigen Platzierungen zu streichen sind. Dadurch verlören bei Aufstellung der Listen Stimmen ihren Einfluss auf das Wahlergebnis, die für eine Frau oder einen Mann abgegeben werden, obwohl deren Kandidatur auf dem konkreten Listenplatz auf Grund des Reißverschlussprinzips nicht zulässig war;
im Bereich des passiven Wahlrechts
– eine Beeinträchtigung des Rechts, „sich ohne staatliche Beschränkung zur Wahl zu stellen“, indem „die Freiheit eingeschränkt wird, sich auf einen konkreten Listenplatz zu bewerben, sofern dieser Platz auf Grund der gesetzlichen Regelung mit einem Vertreter des anderen Geschlechts zu besetzen ist“. Jeder Wahlbewerberin und jedem Wahlbewerber seien grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im Wahlkampf und im Wahlverfahren offen zu halten. In Folge des Paritätsgesetzes bestünden mit Blick auf die konkreten Listenplätze indes nicht mehr die gleichen Chancen, einen Listenplatz zu erringen, indem für Kandidaten, gleich ob Mann oder Frau, jeweils die Hälfte der Listenplätze, auf die sie sich bewerben könnten, wegfiele (zum Ganzen Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs vom 15. Juli 2020, S. 28 ff.).
Dass zu den aufgeführten Punkten durch eine Paritätsregelung in andere Rechtspositionen eingegriffen wird, ist zutreffend. Das Gericht unterlässt es aber, die Beeinträchtigungen zu gewichten, und stellt an späterer Stelle allein darauf ab, dass eine Vielzahl von Beeinträchtigungen vorliegt. Eine Abwägung zwischen den Beeinträchtigungen und dem Rechtsgut, dessen Schutz bzw. Durchsetzung die Paritätsregelung dient, unter Berücksichtigung von Gewicht und Eingriffstiefe unterbleibt.
Tatsächlich erbringt eine genauere Betrachtung der vom Thüringer Verfassungsgerichtshof aufgezeigten Rechtsbeeinträchtigungen, dass sie in ihrer materiellen Tiefe teilweise gering sind.
So stellt sich die Beeinträchtigung des Rechts der Parteimitglieder, auf einen für ein Geschlecht vorgesehenen Listenplatz eine Person des anderen Geschlechts zu wählen, bzw. das Recht der passiv Wahlberechtigten, auf einem nicht für ihr Geschlecht vorgesehenen Listenplatz zu kandidieren, bei lebensnaher Betrachtung als gering dar. Ist bestimmt, dass auf Platz 1 ein Mann kandidiert, kann eine Frau zwar nicht auf Platz 1 gewählt werden, aber auf die Plätze 2, 4, 6 und so weiter. Im Übrigen stellt sich die Möglichkeit, auf einem bestimmten Platz der Liste einer Partei zu kandidieren für die meisten passiv wahlberechtigten Bürger ohnehin als rein theoretisch dar.
Dass nicht der Paritätsregelung entsprechende Listen ganz oder teilweise zurückzuweisen sind, stellt für sich genommen meines Erachtens ebenfalls keinen gewichtigen Eingriff dar, denn eine solche Folge trifft auch Wahllisten, die aus anderen Gründen fehlerhaft bzw. nicht ordnungsgemäß zustande gekommen sind, ohne dass in solchen Fällen darin ein unzulässiger Eingriff in den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien gesehen wird.
Soweit ein erheblicher Eingriff vorliegt, unterlässt das Thüringer Urteil eine Prüfung, ob dieser durch flankierende Regelungen beseitigt oder hinreichend abgeschwächt werden könnte. Das hätte hier nahe gelegen, nachdem der Sachbericht der Urteilsgründe selbst erbringt, dass der ursprüngliche Gesetzentwurf Ausnahmeregelungen für den Fall enthielt, dass sich nicht genügend Kandidat*innen eines Geschlechts zur Wahl stellen, und zudem für die Kandidatur einer aus programmatischen Gründen ausschließlich einem Geschlecht zuzuordnenden Partei. Damit wären gerade die Beeinträchtigungen zu beseitigen bzw. erheblich zu reduzieren, die sich unter den vom Thüringer Verfassungsgerich aufgeführten Beschränkungen als erheblich darstellen.
Rechtfertigung der Beeinträchtigung anderer Rechtspositionen
Noch gravierender geht die Mehrheitsentscheidung zur Frage einer möglichen Rechtfertigung der angeführten Beeinträchtigungen fehl.
Die Gründe, aus denen Rechte beschränkt werden, müssen von den beschränkten Rechten mindestens entsprechendem Gewicht sein. Dass ein solches Gewicht mit der Gleichberechtigung der Geschlechter und der staatlichen Pflicht, auf deren Verwirklichung hinzuwirken, hier vorliegt, wird in der Mehrheitsentscheidung verkannt. Bei Behandlung der Frage einer Rechtfertigung der Beschränkungen durch die staatliche Pflicht, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG) bzw. die Gleichstellung von Frauen und Männern zu sichern (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf), wird zwar gesehen, dass das verfassungsrechtliche Ziel der Gleichstellung als Rechtfertigungsgrund für Beeinträchtigungen der Freiheit und Gleichheit der Wahl in Frage kommt (UA S. 40 f.). Die Ablehnung überzeugt jedoch nicht.
Es wird allein mit dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte der Gleichberechtigungs- bzw. Gleichstellungsvorschriften der Thüringischen Landesverfassung argumentiert, wobei aus der Entstehungsgeschichte der Thüringischen Verfassung Anfang der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts abgeleitet wird, dass der historische Verfassungsgeber mit der Regelung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf dem Gesetzgeber nicht habe die Möglichkeit eröffnen wollen „für die Organe und Einrichtungen des Freistaates paritätische Quotierungen einzuführen“. Der materielle Gehalt der grundgesetzlichen Regelungen zur Hinwirkenspflicht auf Gleichberechtigung und weitere Auslegungsmethoden wie insbesondere die Ermittlung des aktuellen Regelungszweckes und die systematische Auslegung bleiben außer Betracht.
Hier setzen auch die Sondervoten der überstimmten Richter*innen mit ihrer Kritik an.
Die Verfassungsrichterin Heßelmann sieht in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf sehr wohl einen Rechtfertigungsgrund für die Eingriffe. Schon der Wortlaut – „Das Land, seine Gebietskörperschaften und andere Träger der öffentlichen Verwaltung sind verpflichtet, die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen des öffentlichen Lebens durch geeignete Maßnahmen zu fördern und zu sichern“ – stützt nach ihrer Auffassung den Erlass eines Paritätsgesetzes. Zur Entstehungsgeschichte dieser Norm führt das Sondervotum aus, die Expertendebatte im Ausschuss sei zu wenig systematisch gewesen sei, um daraus abzuleiten, dass entgegen dem Wortlaut eine Listenparität nicht gewollt gewesen wäre. Ganz wesentlich ist, dass die Richterin in ihrem Votum, anders als die Mehrheitsmeinung, außer dem Willen des historischen Gesetzgebers den objektiven Sinn und Zweck des verfassungsrechtlichen Förderauftrags berücksichtigt. Und schließlich stützt die Richterin ihr abweichendes Votum auch auf eine systematische Auslegung der Norm unter Berücksichtigung der betreffenden Regelungen des Grundgesetzes und der Eigenheiten des Thüringischen Wahlsystems, was die Mehrheitsentscheidung ebenfalls versäumt hat.
In dem Sondervotum der Richter*innen Licht und Petermann werden zudem zentrale Elemente des materiellen Gehalts des verfassungsrechtlichen Gleichberechtigungsgebotes und Tatsachen zur bestehenden strukturellen Ungleichheit zwischen Frauen und Männern herausgearbeitet. In methodischer Hinsicht beanstandet dieses Sondervotum ebenfalls die fehlende Anwendung der systematischen Auslegung und der Auslegung durch Ermittlung des objektiven Gesetzeszwecks (teleologische Auslegung).
Ich kann mich diesen Sondervoten nur anschließen. Es überrascht sehr, dass sich eine Gerichtsmehrheit über derart durchschlagende Gegenargumente, wie sie in den Sondervoten zum Ausdruck kommen, ohne nähere diesbezügliche Argumentation hinweggesetzt hat
Geringere Eingriffstiefe bei Paritätsregelung auf Grundlage des Hamburger Wahlrechts
Im Hinblick auf unser Koalitionsvorhaben eines Hamburger Paritätsgesetzes ist abschließend noch in den Blick zu nehmen, dass angesichts der Besonderheiten unseres Wahlrechts, bei mehreren der ausgeführten Rechtsbeeinträchtigungen die Eingriffstiefe bei uns deutlich geringer wäre als in Thüringen.
Gegenüber dem Thüringischen Wahlgesetz, nach dem die Landeslistenstimme nur für eine der Listen vergeben werden kann, während für die Wahlkreislisten eine quotierte Besetzung ohnehin nicht vorgesehen war, haben wir in Hamburg jeweils 5 Stimmen für Landes- und Wahlkreisliste, die wir auf den Listen frei verteilen können, auf der Wahlkreisliste auf beliebige Personen und auf der Landesliste auf beliebige Personen oder wahlweise auf eine oder mehrere Landeslisten in deren Gesamtheit. Dieses Wahlrecht, mit dem die Wähler von der Listenhierarche der Parteien abweichende Ergebnisse bewirken können, ist auf Anstoß einer Bürgerbewegung in langwierigen Verhandlungen ausgearbeitet worden. Ich bin mir deshalb subjektiv sicher, dass die aufgezeigten Grundsätze nicht, etwa im Rahmen der Einführung einer Paritätsregelung, einfach wieder beseitigt werden.
Damit ist bei Einführung einer Paritätsregelung für Wahllisten in Hamburg bezüglich der Rechte der Wähler die Eingriffstiefe deutlich herabgesetzt. Die wesentlicheren Beeinträchtigungen für Parteien mit geringem Frauenanteil können durch Ausnahmeregelungen, wie sie der Thüringer Gesetzentwurf ursprünglich vorsah, bis auf ein hinzunehmendes Maß reduziert werden. Dabei wird zu überlegen sein, ob hinsichtlich nicht an ein Geschlecht gebundener Parteien eine Befristung der Ausnahmeregelung in Betracht kommt. Schließlich können Eingriffe auch durch Sonderregelungen im Bereich der Folgen einer Einreichung nicht paritätisch aufgestellter Listen abgemildert werden, etwa indem bei Verstößen geringeren Gewichts nicht eine Zurückweisung der Liste und damit ein Ausschluss von der Wahl droht, sondern ersatzweise finanzielle Sanktionen vorgesehen werden, die ebenfalls ein wirksames Mittel sein können.
Mein Fazit: Keine Bange, wir machen ein verfassungsfestes Paritätsgesetz.